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Yogaphilosophie im Alltag: Citta, Bewusstseinsfeld und Speicher (Teil 5)




Citta in der Antakarana: Der (stille) See des Bewusstseins


In der klassischen Yoga-Philosophie spielt das Konzept der Antakarana – das „innere Instrument“ – eine zentrale Rolle. Es umfasst vier Hauptaspekte unseres feinstofflichen Geistes: Manas (das denkende Prinzip), Buddhi (die Unterscheidungskraft), Ahamkara (das Ego) und Citta (das Speicherbewusstsein).


Citta wird oft als der stille, formbare Hintergrund beschrieben, der alle Eindrücke, Erfahrungen und Erinnerungen aufnimmt und bewahrt. Es ist wie ein klarer See: Jede Erfahrung, jede Regung im Geist hinterlässt eine Welle oder ein Bild auf seiner Oberfläche. Im Yoga Sutra von Patanjali ist Citta das Zentrum, auf das sich die ganze Praxis bezieht. Schon im zweiten Sutra heißt es: "Yogaṣ citta-vṛtti-nirodhaḥ" – "Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen (vrttis) des Citta."


Citta vs. Citta-Vṛtti

Hier entsteht oft Verwirrung: Citta selbst ist nicht gleichbedeutend mit Citta-vṛtti.

  • Citta ist das übergreifende Bewusstseinsfeld, die reine Möglichkeit der Wahrnehmung und Erinnerung.

  • Citta-vṛtti bezeichnet die spezifischen Bewegungen, Wellen oder Muster, die im Citta entstehen – Gedanken, Emotionen, Sinneseindrücke, körperliche Sensationen.

Wenn wir bei dem Bild des glatten Sees bleiben wollen

Wenn das Citta völlig von Vrttis bedeckt ist, nehmen wir die Welt nur durch diese Verzerrungen wahr.

Ist das Citta jedoch klar und ruhig, reflektiert es die Wirklichkeit unverfälscht, wie ein stiller See den Himmel spiegelt.


Viveka – das innere Skalpell der Unterscheidung

Um die feine Grenze zwischen Citta, dem bewussten, potenziell stillen Feld unseres Geistes, und den Citta-vṛttis, den sich darin bewegenden Gedankenwellen, wahrzunehmen, hast Du eine besondere Fähigkeit zur Verfügung, nämlich Viveka, die Unterscheidungskraft.


Viveka ist die Fähigkeit, innerlich zu differenzieren – zwischen dem, was wir sind, und dem, was nur durch uns hindurchzieht. Mit wachsender Achtsamkeit und Übung (zwischen Reiz und Reaktion Raum zu bringen) erlaubt uns Viveka, nicht mehr jede geistige Regung sofort als „Ich“ zu identifizieren, sondern sie als vṛtti zu erkennen: eine Bewegung, ein Impuls, ein Eindruck – nicht mehr und nicht weniger. Citta bleibt dabei wie ein klarer See: Es spiegelt, aber es ist nicht das Spiegelbild. Viveka hilft uns, genau das zu erkennen – und öffnet den Raum für bewusste, klare Präsenz jenseits der automatischen Reaktion.

Mit einem gut geschulten Viveka wirst Du jedes vrtti schnell erkennen: sobald sich nämlich eine Emotion regt. Citta selber ist immer und bleibt immer neutral.


Die Funktion von Citta

Citta speichert die Samskaras (Eindrücke und Prägungen) aller Erfahrungen. Diese gespeicherten Muster beeinflussen unbewusst unser Verhalten, unsere Vorlieben und unsere Reaktionen. In gewisser Weise ist Citta das Gedächtnis und das unbewusste Hintergrundrauschen, das unser Bewusstsein prägt.

Citta ist ständig präsent, selbst wenn wir schlafen. In tiefen meditativen Zuständen kann das Citta jedoch so ruhig werden, dass die eigene wahre Natur (Purusha) direkt durchscheint.


Wie ein See aus Bewusstsein: Citta – der See, Citta-vṛtti – die Wellen

Stell dir dein Bewusstsein wie einen riesige See vor. Citta ist der See selbst – still in seinen Tiefen, weit, aufnehmend, klar. Citta-vṛttis sind die Wellen, die Bewegungen an der Oberfläche: mal ruhig kräuselnd, mal wild aufgewühlt: bewegt von Wind, Wetter und Strömungen – Gedanken, Emotionen, Erinnerungen, Reaktionen. Beide sind Wasser, aber die Welle ist nur vorübergehend - nur eine Momentaufnahme. Die Wellen verändern sich ständig, kommen und gehen, während der See in seiner Essenz bleibt.


Citta kann unterschiedlich erlebt werden

Abhängig von der geistig dominierenden Kraft, kannst Du Dein Bewusstseinsfeld unterschiedlich erleben. Ich möchte nochmal ganz explizit die Notwendigkeit aller dreier Qualitäten herausstreichen. Ohne Verstand keine Ordnungskraft (und dadurch fehlende Orientierungsfähigkeit in der Welt), ohne Ego keine Persönlichkeit - es geht nicht darum, diese beiden auszulöschen. Aber darum, dass jede Kraft einen Platz bekommt, die Deine Erkenntniskraft stärkt.

1. Wenn Manas, der Verstand führt: Manas ist das reagierende, sammelnde, rationale Prinzip, das Informationen aus den Sinnesorganen verarbeitet. Manas wird in unserer westlichen Gesellschaft sehr, sehr hoch angebunden und gefördert.

Wenn Manas dominiert, dann ist das Citta unruhig, flatternd und leicht beeinflussbar. Denn ständige Reize erzeugen ständige neue Vrttis. Das Citta gleicht dann einem See, dessen Oberfläche von Wind und Regen aufgewühlt ist – unruhig und unstet. Und oft bleibt in den Tiefen ein nicht-endendes Getrieben-sein, ein immer-weiter, ein nie-zufrieden - ganz egal, welche Höhen des Erfolges Du erreichst.


2. Wenn Ahamkara, das Ego führt: Ahamkara ist das Ego, das "Ich"-Bewusstsein. Wenn Ahamkara die Führung übernimmt, wird das Citta stark eingefärbt von subjektiven Wahrnehmungen, Anhaftungen und Abneigungen. Jede Erfahrung wird persönlich genommen, mit der Identität verwoben - häufig ist die Interpretation dann "ich bin nicht genug" oder "ich bin viel zu viel". Das Citta wirkt dann trüb, wie ein See voller aufgewühlter Sedimente – die wahre Tiefe bleibt verborgen.


3. Wenn Buddhi führt: Buddhi ist die Kraft der Unterscheidung und Weisheit. Wenn Buddhi in der führenden Position ist, wird das Citta klar und ruhig gelenkt. Entscheidungen beruhen auf tiefer Einsicht und ethischem Bewusstsein. Die Vrttis werden bewusst beobachtet, reflektiert und nicht unwillkürlich ausagiert. Das Citta erscheint in diesem Zustand wie ein ruhiger, tiefer See – Spiegel für die Wahrheit.


Fazit

Citta ist das feine Bewusstseinsfeld in uns, das alle Eindrücke aufnimmt und bewahrt. Die Yogapraxis zielt darauf ab, die Bewegungen des Citta (Vrttis) zur Ruhe zu bringen, damit wir der wahren Natur unseres Seins näher kommen können, bzw. sie klarer erkennen können.


Ob das Citta klar und ruhig oder unruhig und getrübt erscheint, hängt maßgeblich davon ab, welcher Aspekt der Antakarana in der führenden Position ist. Indem wir Buddhi stärken und Ahamkara und Manas bewusst integrieren, kann das Citta in seine natürliche, klare Stille zurückfinden – dorthin, wo der See unseres Bewusstseins den Himmel der Wahrheit widerspiegelt.


 
 
 

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